




















































































Selma Lagerlöf hat ein umfangreiches erzählerisches Œuvre hinterlassen. Es umfasst kürzere und längere Erzählungen, Novellen und Romane, außerdem ihre Autobiografie. Sie war keine Intellektuelle, aber doch eine bewusst arbeitende Schriftstellerin. Die Stoffe für ihre teils märchen- und legendenhaften, teils sozialkritischen Erzählungen und Romane gaben ihr die Phantasie ein, eine genaue Beobachtung und die Lust am Weiterspinnen der Geschichten anderer.
Gösta Berling wurde angeregt durch den schwedischen Dichter und Komponisten Carl Michael Bellman und den finnischen Autor Johan Ludvig Runeberg. Nachdem Lagerlöf begeistert an einer Literaturvorlesung über die beiden Autoren teilgenommen hatte, sagte sie sich: „Runebergs gutmütige Haudegen und Bellmans sorglose Saufkumpane seien das beste Material, das einem Dichter zur Verfügung stehen könnte“. Daraus folgerte die Einundzwanzigjährige: „Die Welt, in der du unten in Värmland gelebt hast, ist nicht weniger seltsam als die Fredmans oder Fähnrich Ståls. Wenn du nur lernst, sie zu benutzen, dann hast du einen ebenso guten Stoff zu bearbeiten wie diese beiden“.
Die episodenreiche Saga vom trunksüchtigen Pfarrer Gösta Berling, der sein Amt verloren hat und durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gehen muss, verbindet regionale Legenden mit klassischen Mythen und weltliterarischen Stoffen wie Amor und Psyche, dem Faust- und dem Don Juan-Stoff. Am Ende obsiegt die Liebe. Gösta Berling, der zu Beginn des Romans hatte sterben wollen, ist geläutert und wendet sich nun den Hilfsbedürftigen zu.
Häufig wählt Lagerlöf als Grundstruktur Aufbruch und Reisen. Dadurch gelingt es ihr, verschiedene Welten einander gegenüber zu stellen: Arm und Reich, Land und Stadt, Menschen- und Vogelperspektive, alte Legenden und Zukunftsvisionen, Christentum und Mythologie. In dem zweibändigen Auswanderroman Jerusalem kontrastiert die waldreiche, hügelige Landschaft der Provinz Dalarna mit der Stadt Jerusalem. Auch in der dreiteiligen Autobiographie Mårbacka (1922, 1930 und 1932) führt der Weg von der Landschaft Värmlands und seinen Mythen zu Großstadt Stockholm als Ort der Modernität.
Das erstaunlichste Werk Lagerlöfs aber ist und bleibt die Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen. Vom schwedischen Volksschullehrerverband beauftragt, konzipierte Lagerlöf ein Lesebuch für den Heimatkundeunterricht, das „zugleich ein Kunstwerk und ein Schulbuch“ wurde. Wie Rudyard Kipling in Die Dschungelbücher wählte auch sie die Tierfabel und einen jungen unreifen Helden, der halb wie im Märchen, halb wie im Erziehungsroman seine Persönlichkeit finden muss.
Der 14-jährige Bauernjunge Nils Holgersson ist „hartherzig gegen die Tiere und boshaft gegen die Menschen“. Seine Eltern grämen sich wegen seines schlechten Charakters, sind aber machtlos, ihn zum Besseren zu bewegen. Als Nils eines Tages ein Wichtelmännchen mit einem Fliegennetz quält, wird er von ihm in einen Däumling verwandelt. Klein und wehrlos, muss er nun um sein Leben fürchten. Da kommt ihm ein Zufall zu Hilfe: Der zahme Gänserich Martin nimmt ihn auf seinen Rücken und schließt sich einer Schar Wildgänsen an. Die Zugvögel fliegen über ganz Schweden, die Reise dauert ein halbes Jahr. Nils lernt die Inselwelt von Schonen im Süden bis Lappland im hohen Norden kennen. Er versteht die Sprache der Tiere und teilt mit ihnen ihr Los. Langsam entwickelt er sich zu einem fürsorglichen Jungen. Nachdem er in Värmland der Dichterin selbst begegnet ist, kommt er über die Westküste zurück nach Schonen. Dort erhält er seine normale Gestalt zurück und wird von seinen Eltern in die Arme geschlossen. Er rettet seine Lieblingsgänse vor der Schlachtung und schaut am Ende sehnsüchtig einer Schar von Wildgänsen nach, die über das Meer davonfliegt. Fast wünschte er, wieder ein Däumling zu sein, um mit ihr fortfliegen zu können. Denn nur unter Tieren konnte er zu einem liebenden und verantwortungsvollen Menschen werden.
In diesem Werk erreicht Lagerlöfs Erzählkunst ihren Höhepunkt, all ihre Begabungen vom Phantasienreichtum hin bis zum pädagogischen Geschick kommen hier zur vollen Entfaltung. In einer modernen, lebendigen Sprache verknüpft sie alte Sagen, lehrreiche Geschichten, Traumerlebnisse, Märchen und geographische Beschreibungen mit dem Schicksal ihres Helden. Geschichte und Gegenwart des damaligen Schweden werden thematisiert, auch Erzgruben und Sägewerke, Landwirtschaft und Schifffahrt. Kleine Abhandlungen über Flora und Fauna sind geschickt in das Märchen eingestreut. Sozusagen aus der Vogelperspektive erhält der Leser einen umfassenden Überblick über Schweden zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Fortschrittsglaube Lagerlöfs und ihre Bejahung der immer stärker werdenden Industrialisierung Schwedens sind deutlich herauszuhören.
Nils Holgersson wurde in 40 Sprachen übersetzt. Der Verbreitung des Buches kam zugute, dass sich die Kinderliteratur schon vor der Jahrhundertwende zu etablieren begann. Die moralisierenden Schriften, die fast ausschließlich erzieherischen Zwecken dienten, wurden abgelöst von schön gestalteten Kinder- und Jugendbüchern. Zu ihrem hohen Ansehen trug bei, dass bedeutende Künstler wie die Malerinnen Ottilia Adelborg und Jenny Nyströmder und der Maler Carl Larsson, der auch Selma Lagerlöf porträtierte, sich als Illustratoren um diese Literatur bemühten. Das von der schwedischen Autorin Ellen Kay ausgerufene ‚Jahrhundert des Kindes‘ brachte eine Fülle an Werken hervor, von denen ein Teil sogar zur Weltliteratur gezählt wird – nicht zuletzt Nils Holgersson.
Selma Lagerlöf: Von Wildenten und wilden Kavalieren, Barbara Thoma. Römerhof Verlag, Zürich 2013.
Skandinavische Literaturgeschichte, herausgegeben von Jürg Glauser. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 2006. Der Nobelpreis für Literatur. Prinzipien und Bewertungen hinter den Entscheidungen, Kjell Espmark. Aus dem Schwedischen von Ruprecht Volz und Fritz Paul. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988. Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Essays, der im Rahmen von Simone Frielings Buch „Ausgezeichnete Frauen. Die Literaturnobelpreisträgerinnen“ im Sommer 2015 im Verlag LiteraturWissenschaft.de erscheint.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz